Begegnungen mit Hildegard von Bingen
Meine persönliche Geschichte mit Hildegard von Bingen begann 1993.
In meiner Entscheidung, an der früheren Hauptwirkungsstätte dieser Frau Pfarrer zu werden, bin ich ihr zum ersten Mal begegnet. Es war eine Begegnung mit Folgen. Diese Frau aus dem Mittelalter hat mich seit meiner ersten Annäherung nicht mehr losgelassen.
Die Frau passt zu mir, dachte ich damals. War das nicht die Heilige, die immer nur ihren Überzeugungen gefolgt ist. Hatte diese Frau nicht den Mächtigen ins Angesicht widerstanden und selbst Papst und Kaiser ins Gewissen geredet. Bei ihr konnte ich mich wieder finden.
Fast bin ich geneigt mit dem Dichter zu sagen: Halb zog sie ihn, halb sank er hin, da war’s um ihn geschehen.
Kaum angekommen, lud die Äbtissin von Eibingen ein zur Vorbereitung des 900. Geburtsages. Ich wurde Mitglied im Kuratorium und im Hauptausschuss zur Vorbereitung des Hildegardjahres. Wir gründeten zahlreiche Ausschüsse, gaben liturgische Hilfen für Gottesdienste heraus, wir schufen ein Pilgerbuch und beschäftigten uns in zahlreichen Gruppen mit Hildegard von Bingen. Ich wurde in ein Netzwerk hinein verwoben, fand Gleichgesinnte, die von dieser außergewöhnlichen Gestalt des Mittealters fasziniert waren. Selbst leitete ich den Arbeitskreis für liturgische und spirituelle Angebote. Ich entwickelte zusammen mit anderen erwachsenbildnerische Angebote wie z.B. Ausstellungen, Konzerte und Vorträge und ein Pilgerbuch. Zusammen mit Professoren der kath. Fachhochschule begleitete ich als theologischer Berater die Entstehung eines Hildegardmusicals, regte zusammen mit unserem damaligen Kirchenmusiker die Komposition eines klassisch gefärbten Hildegardoratoriums am und wurde dann schließlich zum Initiator der Rupertsberger „Hildegardis-Tage“, die später mit dem Binger Hildegardherbst verschmolzen. Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, lebendige Liturgien und Begegnungstage waren neben anderem wichtige Programmpunkte. Aber auch die Beschaffung von Finanzen durch Zuschüsse, Spenden und Sponsoring gehörten zu meinen Aufgaben im Spektrum der Hildegardarbeit.
Am Beispiel dieser Arbeit kristallisierte sich mehr und mehr heraus, in welch umfassender Weise die Gestalt Hildegards dazu geeignet war und ist, neben den vielseitigen spirituelle Aspekten ein umfassendes Erwachsenenbildungsprogramm um diese Person zu spinnen und so Menschen einen vielseitigen Zugang zu dieser vorreformatorischen Gestalt zu ermöglichen.
Im März 2009 war ich schließlich eines der sieben Gründungsmitglieder der „Rupertsberger Hildegardgesellschaft“ deren Vorsitzender ich dann später für vier Jahre werden sollte. Hier konnte dann die Arbeit mit Hildegard von Bingen in einer festen Gruppe an ihrer Wirkungsstätte ihre institutionalisierte Fortsetzung finden.
Je mehr ich mich der Gestalt Hildegard näherte, umso stärker spürte ich die Faszination, die von ihr und ihrer Botschaft auf mich bis zum heutigen Tag ausgeht. Seit 1993 durfte ich Hildegard auf sehr unterschiedliche Weise begegnen und mich ihr annähern, ohne sie wirklich erfassen zu können. Und das bis heute.
Ich habe ich immer wieder neu erfahren. Jede Begegnung mit Hildegard fasziniert mich neu. Es gibt für mich keine Beschäftigung mit dieser Frau, ohne, dass sie mich in der einen oder anderen Weise anfragt. Oft sehe ich wie in einen Spiegel, den sie mir vorhält. Jede Begegnung zeigt mir: sei es durch das Lesen in ihren Werken, durch das Hören ihrer Musik oder durch das Gespräch mit anderen Menschen: Diese Frau fasziniert, fragt mich persönlich an, verändert mich und schickt mich auf den Weg.
Die erste Begegnung mit Hildegard war ein Ruf an mich, der bis heute nicht verstummt ist.
Vielleicht lese ich auch deshalb so gerne in dem Buch von Ingrid Riedel, Hildegard von Bingen, Prophetin der kosmischen Weisheit. Ingrid Riedel beschreibt am Anfang ihres Buches ebenso eine persönliche Erfahrung ihrer ersten Begegnung mit Hildegard und beginnt mit den Worten: „Dies ist das Buch einer Begegnung: einer seelisch-geistigen Begegnung mit der Inspiration einer Frau aus dem hohen Mittelalter, die mich seit der ersten Annäherung an sie nicht mehr losließ. Es war dies vor mehr als fünfzehn Jahren anlässlich einer Mystik-Tagung, die ich an der Evangelischen Akademie in Hofgeismar veranstaltete.“ …. „Je länger ich mich mit ihr beschäftigte, je mehr ich über sie und um sie weiß, desto fremder wird sie mir; je fremdartiger, desto faszinierender auch.
Geheimnisvoll ragt sie auf in der geistigen Landschaft des 12. Jahrhunderts, erst recht in derjenigen unseres Jahrhunderts. Sie überragt viele Gelehrte und tiefsinnige Geister unter den Männern; überragt sie alle in ihrer Einzigartigkeit als inspirierte Frau, die das Sehertum der germanischen und keltischen Frühe, das Prophetentum des AltenTestaments wiederbelebt, wiedererfährt – dabei einzigartige Bilder des Göttlichen schaut und vernimmt: den Kosmos als Gottes Leib in Mandorla-Gestalt, die Gestalt der Weisheit in der Farbe des >>heiligen Grün<<, die das Weltenrad erfüllt.“
Für Riedel fügen diese kostbaren Bilder dem Gottessymbol „eine neue, eine weibliche Facette“ hinzu. Sie zeigen für sie ein neues Gesicht Gottes – „sie sind eingebettet und teilweise verschüttet wie unter Lawinen mittelalterlicher Theologie, mit denen Hildegard ihre revolutionären Visionen zu erklären und einer mißtrauischen, verketzerungsbereiten Kirche zu vermitteln sucht und Ihnen damit oft ihre Unmittelbarkeit nimmt.“
Fast schon poetisch schwärmt Ingrid Riedel, wenn sie weiter von ihrer persönlichen Begegnung mit Hildegard spricht: „Hildegards Visionen beziehen sich nicht auf einzelne Heil- oder gar Kochrezepte, sondern auf eine Gesamtschau der Weisheit, die, verschwistert mit kosmischer Liebe und dem schöpferischen Geist, das All durchwaltet, reinigt und erneuert.“ Für sie leuchtet bei Hildegard das weibliche Antlitz Gottes als das Antlitz der Weisheit in einzigartiger Klarheit und Schönheit auf.
(Zitatquelle: Riedel Ingrid, Hildegard von Bingen, Prophetin der kosmischen Weisheit, Stuttgart 1994)